Ewiges Leben

Porträts & Exposés

Fragment

Sie wollte nie ein Pflegefall werden. Es gab keine schrecklichere Vorstellung für sie. Schon bei meiner Urgroßmutter hatte die Oma angeregt, ihr doch einfach keine Medikamente mehr zu geben, als diese bloß noch als Häufchen Elend in ihrer Kammer lag. Die Nachbarskinder hatten die steinalte Frau gelegentlich besucht, da sie immer ein wenig Schokolade in einem Kasten bereithielt, doch jene, die weniger empfänglich für diese Verlockungen waren, mieden sie schon lange. Meine Oma war eine pragmatische Frau. Sie hatte begriffen, dass man sich nicht festklammern konnte, dass man die Menschen ziehen lassen musste, wenn die letzte Menschlichkeit erloschen war.

Wie das Schicksal manchmal so spielt, traf es meine Oma im fortgeschrittenen Alter besonders hart. Nach einer Hüftverletzung und längerer Bettruhe erweckte sie zusehends einen verwirrten Eindruck. Sie fantasierte, sah Schlangen in ihrem Haus und viele andere Dinge, die nicht da waren. Glücklicherweise schien es sie selbst nicht sonderlich zu belasten, stattdessen nahm sie all die Kuriositäten und Schrecklichkeiten mit stoischer Ruhe hin, mit derselben Gleichgültigkeit, wie wenn jemand erklärte, dass es heute vermutlich windig werden würde. Sie verstrickte sich häufig in Widersprüche, aber wenn man versuchte, sie auf den Pfad der Logik zurückzuführen, erwies sich das als höchst unbefriedigend.

„Du wirst es schon wissen“, verkündete sie dann im überheblichen Ton eines Gelehrten, der sich seiner Sache absolut sicher war.

Meine Oma behauptete oft, mich mit Kinderwagen auf der Straße gesehen zu haben und hielt mein ständiges Dementieren für eine unangebrachte Geheimnistuerei. Ledig mochte ich zwar sein, doch wir lebten schließlich nicht mehr in den Fünfzigern. Was ich mir denn für Sorgen mache, fragte sie kopfschüttelnd. Darüber hinaus behauptete sie regelmäßig, gerade frische Krapfen gebacken zu haben. Das war zu einer Zeit, als man es ihr noch hätte zutrauen können. Aber wenn sie einem schließlich einen leeren Teller anbot, konnte man gleichermaßen weinen oder lachen. Einmal kramte sie sogar eine Schachtel Staubzucker hervor und bestäubte den Teller sorgsam mit Hilfe eines Siebes. Die Vehemenz, mit der sie die Illusion aufrechtzuerhalten gewillt schien, war bemerkenswert.

Mein Opa, ein Krapfenfreund, der mit der Situation nicht recht umzugehen wusste, schämte sich offenkundig für seine Gattin. Die Oma hingegen wirkte stets zufrieden. Selbst als sie schließlich nicht mehr gehen und das Haus nur noch in Begleitung ihrer Pflegerin mit einem Rollstuhl verlassen konnte, antwortete sie auf die Frage nach ihrem Befinden immerzu mit einem beiläufigen „Mir geht es gut.“ Genügsam und ruhig ging sie ihrem Ende entgegen. Es war nicht ihre Art zu klagen.

Die Oma war eine einfache Frau, Näherin und zur eisernen Sparsamkeit genötigt, aber ausgesprochen klug. Sie stammte aus einer Bauernfamilie, weshalb ein höherer Bildungsweg praktisch kaum zur Debatte stand. Während des Krieges hatten die Menschen Hunger, erzählte sie manchmal, aber die Bauern lebten ganz gut. Sie wurden nicht zum Wehrdienst eingezogen und erlebten den Krieg nur am Rande, sahen vor allem die Armut, aber nicht die blutigen Schützengräben. Gelegentlich wurde ein Schwein geschlachtet, ohne es zu melden, und eilig in einer Nacht-und-Nebel-Aktion geselcht. Einmal war das Fleisch am nächsten Morgen spurlos verschwunden. Offensichtlich hatten es die Knechte gestohlen, aber was sollte man schon machen? Man konnte das eine Verbrechen kaum sühnen, ohne das andere zuzugeben. Und es war eine humorlose Zeit, eine harte Zeit. Verbrechen wurden bestraft.

Meine Oma hatte einmal erzählt, wie ihre Hündin geworfen hatte - sechs hübsche kleine Welpen. Aber am Hof hatte man weder Geduld noch Muße, sich um die Tiere zu kümmern. Der Vater hatte sie alle einzeln im Brunnentrog ertränkt. Er hatte nichts weiter dabei empfunden, es war ein beinahe mechanischer Akt gewesen. In der Zeit des Sterbens war Mitgefühl den Menschen vorbehalten.

Wenn ich sie heute besuche, kommen in mir immer öfter die alten Erinnerungen hoch. Erinnerungen an eine neckische Frau mit scharfem Witz, die gerne wandern ging und Karten spielte. Das Haus ist in einen seltsamen Ammoniakgeruch gehüllt. Die Fenster sind klein und mir kommt es so vor, als würde immer weniger Licht hereinströmen, als wäre es immer dunkel. Mein Opa liegt in der Veranda, ehe er zu seiner Runde in den Markt aufbricht, um sich dort mit alten Gefährten zu treffen. Die Pflegerin ist oben. In Gedanken ist sie bei ihrer Familie in der Slowakei. Meine Oma liegt allein in dem verstellbaren Krankenbett neben dem Bild, das immer schon im Wohnzimmer gehangen hat. Der geschwungene, goldene Rahmen wirkt protzig. Umso gewöhnlicher erscheint das Motiv: Eine Frau mit cremefarbener Haut nimmt ein Bad, aber die Szenerie hat nichts Erotisches. Ihre Pose ist plump. Das Haar der Frau ist dünn und klebt an der Stirn. Sie wirkt ernst, pflichtschuldig. Aus dem Bild fließt eine Zeit, in der Glück kein Maßstab für ein Leben war, eine Zeit der Pflicht, eine Zeit des Kollektivismus, eine Zeit der Konvention. Niemand weiß, wen die Frau auf dem Bild darstellt. Eine der Vorbesitzerinnen, hatte meine Oma einmal gemutmaßt. Als ich nähertrete, öffnen sich ihre Augen. Sie sieht mich unwissend an. Mir wird klar, dass sie mich nicht erkennt. Ebenso wenig versteht sie mich, es muss genügen, dass sie mich hört. Gelegentlich lächelt sie, während ich erzähle – vom Alltag und vom eigenen Vorankommen – aber es bleibt ein Rätsel warum. 

Roland Grohs