Quo vadis, Johanna?
Oder:
Das Geheimnis der vielseitigen Tochter
Ich glaube nicht an Astrologie, aber die Maigeburt im Zeichen des Zwillings eines Fötus zur Zeit des Berliner Mauerfalls kann das Sphinxhafte meiner Tochter nur soweit hinreichend erklären, dass die Durchtrennung der Nabelschnur zwischen Mutter und Tochter durch den Vater am Dienstag, den 30. Mai 1990 um 08:08 Uhr in Ludmannsdorf vollzogen wurde, einer Kärntner Landgemeinde, die mit zweitem Namen slowenisch Bilčovs heißt, so steht es jetzt in allen Dokumenten, Johanna, geb. Fanta, verheiratete Fanta-Jende – natürlich mit einem Deutschen verheiratet als Fötus in Zeiten des Mauerfalls – in Ludmannsdorf / Bilčovs. Warum, warum? Warum Ludmannsdorf, warum Bilčovs. Fragen, Fragen, die Tochter den anderen ein Rätsel, der Vater kann es erklären: Wir waren damals alternativ – alternative Anhänger absolut alles Anderen, Abweichenden als Antisepsis, Anti-Allgemeinkrankenhaus. So, und darum die hemdsärmelige windische Hebamme, Geburt im Häuschen mit Obstgarten im Dorf Bach, slowenisch Potok, der in Zweisprachigkeit Geborenen wird die Polyglottie in die Wiege gelegt. In der Nacht kamen die Wehen, aber die wurden verschwiegen, um sechs Uhr morgens stand die Kreisende schon angezogen vor mir, dem Nabelschnurschneider. Da hieß es, sich beeilen. Schnell noch Spiegelei, und Speck, das braucht es zum Nabelschnurabschneiden, und der Geruch macht den Einlauf bei der Kreisenden überflüssig. Schnell, schnell, zwanzig Kilometer nach Ludmannsdorf, Bilčovs, Bach, Potok, Marija Valentinič, die Hebamme prüft mit einem Blick, sofort, sofort, Gebären beim offenen Fenster, draußen zwitschern die Vögel, heiß sterilisierte Zangen und Scheren hergerichtet, und schon ein tiefschwarzes Schopferl sichtbar, und dann krebsrote glitschige 3550 Gramm – und Krrr, der Vater trennt die körperliche Verbindung mit der Mutter, aber nur die körperliche, nie die seelische. Und dann bald staunen wir das Wunder an, das warm eingepackte, namens Johanna. Warum dieser Name? Jeanne d’Arc, die Amazonin, erste Feministin, erste Nationalistin, erste Freiheitskämpferin, erste moderne Heilige, so viele Seiten hat diese Johanna, wie unsere.
Zwischen zwei Welten geboren, in viel mehr verschiedenen Welten und Sprachen aufgewachsen, mit der Mutter Englisch, im Kindergarten Slowenisch, dann die zweite Familie des Vaters und Ungarisch. Te édes kislány vagy! Ungarn, Debrecen, Tokaj, das andere Land, die andere Stadt, die andere Familie, die anderen zwei kleinen Brüder. Das freie Lernen nach der Montessori-Methode der famosen Carmen Würschl, dann das stinknormale Mössinger-Gymnasium, Weltreisen mit der Mama. – Was ist dein wahres Zuhause? Was ist wirklich deine Sprache? Dein Land? Deine Stadt? Dein Haus? Dein Bett? Was ist dein Charakter: Berufs-, National-, Staats-, Klassen-, geographischer, Geschlechts-, bewußter, unbewußter, privater Charakter und – deine passive Phantasie unausgefüllter Räume? Dein Wesen wird die Sehnsucht nach der Ferne und der Nähe, nach dem Alles und dem Nichts, nach dem Jetzt und dem Nie.
Aber was weiß ein Vater denn schon von seiner halb erwachsenen Tochter? Ich erinnere mich an zwei Begebenheiten aus dem Jahre 2008. Damals fiel mir die große Ehre zu, Johanna bei der Matura und beim Studienanfang zu begleiten und zu betreuen, weil Hilde gerade verreist war, und ich hatte beim Vatersein auch viel nachzuholen. Der Termin der alles entscheidenden mündlichen Matura fiel genau auf den Tag, an dem in der neu errichteten Wörthersee-Arena in Klagenfurt das erste von drei Spielen der Fußball-Europameisterschaft ausgetragen werden sollte. Ich sollte Johanna mit dem Auto an die Schule eskortieren. Die Stadt war an diesem Morgen wie ausgestorben, alle anderen Klagenfurter hatten schul- und arbeitsfrei und hielten sich vor den bösartigen kroatischen, polnischen und deutschen Fanhorden versteckt, deren Einfall in die Stadt mit Zittern und Zagen erwartet wurde. Die Straßen waren alle abgesperrt, nicht ortskundige Volkspolizisten aus Norddeutschland leiteten den spärlichen Verkehr um. So hatte ich größte Mühe, überhaupt rechtzeitig in die Neckheimgasse zu kommen. Viele Fragen gingen mir durch den Kopf. Matura, mature, sie ist jetzt also reif geworden, aber wie hält sie es überhaupt mit - - - dem anderen Geschlecht? Muss sich das der Vater nicht auch einmal fragen, wenn die Tochter gerade, vor ein paar Tagen, achtzehn geworden ist? Seit Jahren, seit dem Anfang der Pubertät, weiß der eigene Vater eigentlich gar nichts, gar nichts, ein völliges Geheimnis, in das er sich nicht einmischen darf, ist das Thema der Freund der Tochter. Da ist nur immer die Leni, und dann diese beiden Kameraden, Martin und Stavros, erstens immer beide, nie einer allein, und zweitens, eh fast asexuell sind die, oder? - - - Das alles dachte ich während meines Autoslaloms zwischen den Volkspolizisten. Und dann bedrückte es mich immer mehr, dass ich die arme Johanna in der letzten Nacht vor der alles entscheidenden mündlichen Matura allein gelassen hatte, ganz allein in dem großen Haus. Wir hatten zwar am Abend noch telefoniert. Aber dann ganz allein vor dieser schrecklichen alles entscheidenden Prüfung! Das arme kleine Mädchen! Die junge Frau? Ja, klein ist sie nimmer. Aber doch allein in einer solchen entsetzlich entscheidenden Nacht vor der ersten großen Prüfung. Die Mutter weg, einfach verreist, der Vater, ein bequemer, selbstzufriedener Tokker, kümmert sich immer nur halbherzig. Sie hat am Telefon nicht gefragt: »Papa, magst du nicht da schlafen?« War sie überhaupt allein gewesen? Und dann stand sie vor mir in ihrer österreichischen Maturabekleidung in dem Vorraum. Und da waren auch diese Schuhe in dem Vorraum, die am Tag zuvor noch nicht da gewesen waren. Ziemlich große, ausgelatschte Männerlatschen. Und sie lächelte, legte den Finger auf den Mund. Pssst!
Mein zweites Johannavatererlebnis des Jahres 2008 trug sich im September zu. Da war Hilde noch einmal verreist, auf eine ihrer großen Weltreisen, ich glaube, Bolivien. Mir fiel die ehrenvolle Aufgabe zu, Johanna zum Studienbeginn in die Universitätsstadt Graz zu eskortieren. Zuvor hatte es schon komplizierte Verhandlungen mit vielem Seufzen gegeben. Was und zu welchem Ende studieren? In Johannes Herzen schlummerten seit Jahren mannigfache Optionen: Schauspielerin? Kinderpsychiaterin? Elternpsychologin? Aber was sie wirklich wollte, war ein Geheimnis, war ihr selbst ein Geheimnis. Auch noch während der Autofahrt nach Graz. Da saß sie mehr als eine Stunde versonnen schweigend neben mir. Dann: Spanisch! Diese Sprache hatte sie anders als Englisch und Französisch in der Schule zwar nicht gelernt, aber – Spanisch. Daraus entwickelte sich ein paar Stunden später eine etwas paradoxe Stuation. Ich möchte sie Johanna-entscheidet-sich-Szene nennen. Es stellte sich nämlich heraus, dass das Studium der spanischen Sprache ohne Vorkenntnisse an der Karl-Franzens-Universität nur angefangen werden kann, wenn man einen sofort beginnenden Superintensivsprachkurs bezahlt. Kostenpunkt: 400 Euro. Darum ist es nicht so verkehrt, wenn eine Tochter bei der Universitätsersteinschreibung einen Vater mit Bankkarte dabeihat. Johanna sagte: »Du Papa, schlägst mir jetzt vor, dass ich einmal um das Haus gehe? Und wenn ich zurückkomme und ja sage, darfst du die Karte da reinstecken!«
Das sind nur Ausschnitte. Es geht immer so weiter. Johanna bleibt voller Geheimnisse und ihr Leben ist mit weiteren Johanna-entscheidet-sich-Szenen gespickt, an denen sie uns mehr oder weniger teilhaben lässt. Es gibt unendlich viele Männer in aller Herren Länder. Aber jung-frau will den Einzigrichtigen finden. Ach, ich tu mich so schwer, mich zu entscheiden. Ach, ach! Das hören wir von ihr. Und dann lässt sie es mit ihrer traumwandlerischen Sicherheit zu, dass der Einzigrichtige sie findet. Es gibt unendlich viele Berufe. Johanna ist für den edelsten erwählt worden, den der Forscherin. Aber was forschen? Und wo? Ach, ich tu mich so schwer, ach, ach! Graz, Enschede, Münster – Wien. Bumm! Sprachforschen. Es gibt unendlich viele Sprachen, welche erforschen, und wie? Ach, ach, so schwer, ach! Sie erforscht eine Sprache, die gar keine Sprache ist: den Dialekt. Und weiter, weiter - - - werdet ihr Kinder kriegen, und wie viele, ach, ach, werdet ihr uns Großelternjobs in unserer Rente auftragen, ach, ach, werdet ihr in Wien bleiben oder anderswohin ziehen, in ein fernes Land in Übersee, ach, ach, … so wächst der Reichtum deiner Seele und bleibt das Geheimnis.