Sörku Drägo
Wir oben drücken uns die Nasen an der kalten Frühfrühlingsscheibe im Schlafzimmer platt. Früh ist es, zu früh, sieben Uhr sieben, schon spät. Hilde unten im Hof versucht das Mofa in Gang zu setzen. Alexi zeigt sich besorgt. Mama sörku drägo, sagt er, noch in der Windel, drüber der Pyjama. Hilde müsste längst los gefahren, in Moosburg sein, ich an der Uni sein, Musil-musil, die Diplomarbeit ruft. Da, ein karges Krächzen, krn, krn, krn. Das Mofa haben wir im Sommer darauf verkauft, an Sabir, um einen Kelim, zugunsten des ersten Mausautos. Das Knattern! Krn, krn, krn. Dunkelgrauer Rauch steigt auf. Und sie fährt! Sörku drägo! Richtig erleichtert ist Alexi nicht. Ich bin es auch nicht. Das ungemachte Bett lockt uns.
Aber eine halbe Stunde später schon auf der kleinen Fußgängerbrücke über den Lendkanal. Alexi angezogen, mit Weste und Kappe, stolpert voran, die Holztreppen hinauf. Das ist ein neuralgischer Punkt. Über diese kleine Brücke müssen wir kommen. Wenn wir da schon umkehren, ist es eine herbe Niederlage für die väterliche Pädagogik, die Musilforschung, die Philologenkarriere. Zum Glück sind die Enten da. Und sie schwimmen in die richtige Richtung. Nach links. Sie quacken. Sörku Drägo, ruft ihnen Alexi begeistert nach. Stürmt über die Treppe auf der richtigen Seite zum Nautilusweg. Sörku Drägo, Sörku Drägo. Jetzt nur nicht fallen. Wär nicht gut für den Studienabschluss.
An der Kreuzung zur Universitätsstraße steht eine riesengroße Planierraupe. Wir müssen also einen kleinen Umweg einlegen. Asphalt wird gewalzt. Es stinkt, schnauft, dröhnt. Alexi ist schwer beeindruckt. Sörku Drägo, Sörku Drägo. Ich ziehe ihn weiter. Jetzt nach links abbiegen. Er will aber nicht, er zieht mich, gerade aus. Da drin in der kleinen Raiffeisenbankfiliale, wo wir unser Konto haben, ist ein kleiner lustiger Mann mit einer hohen Stimme, Herr Aldinger, er schwäbelt, er kennt Alexi schon, Sparschweingescheppere. Sörku Drägo, Sörku Drägo. Ich denke dran, wenn ich mit dem Studium fertig bin, die Assistentenstelle habe, dann werden wir Geld ansparen, später einen Kredit bekommen vom Herrn Aldinger, dann eine Eigentumswohnung kaufen…
… Deswegen muss ich ihn dort abliefern. Trixi, Babsi, sage ich. Das sind die Kindergärtnerinnen in der Krabbelstube. Hätte ich nicht so früh aussprechen sollen, die Namen. Alexi verzieht den Mund. Krabulu, huhuhu, Karabulu, huhuhu. Ich, so knapp vorm Ziel, noch einmal: Trixi, Babsi. Er, entschieden: Krabulu, nein, nein, nein. Scheiße. Er wirft sich in die Pfütze. Scheiße. Ich muss noch einmal heim, ihn umziehen.
Zu Hause, ausgezogen, kriecht Alexi sofort ins Bett. Ich schalte halt den Fernseher ein. Video mit Sesame Street. Ich kann ja zu Hause auch mit Arnolt Bronnen weiter machen, meiner Diplomarbeit über Recht auf Jugend. Big Bird. He-Mann. Draußen kommt es mir düster vor. Es scheint schneien zu beginnen. Ich leg mich auch ein bisschen zu ihm. Wir schauen und hören zusammen das Video mit den Nursery Rhymes. Old King Cole was a merry old soul… Ich döse auch schon. Von draußen dringt ein Dröhnen, ein Hubschrauber vielleicht. Alexi reibt sich noch einmal die Augen: Sörku Drägo, stottert er verschlafen, dann ist er hinüber, wie ich auch.
Das Einverständnis der Märztage von neunzehnhundert-siebenundachzig, als er in die Krabbelstube und ich bei meiner Diplomarbeit sitzen sollte, ist auf ewig vor die Hunde gegangen. So genannte zwingende Notwendigkeiten haben uns getrennt, die heute keiner mehr versteht. Irgendetwas hat ihn trotzdem groß werden lassen, ein bisschen mit Verspätung, im Unterschied zu mir ist Alex ein Sörku Drägo geworden, wirklich ein großer Zirkusdirektor, der die zwingenden Notwendigkeiten im Griff hat und die wichtigen Dinge im Leben bemeistert, Vertrauen, Treue, Liebe. Möge er so bleiben.