Klima
„Klimakommunismus – so nennt der Kickl die geplanten Regierungsmaßnahmen zur Einschränkung des CO2-Ausstoßes.“
Und jetzt liest mir Walter aus der Parlamentskorrespondenz eine Zusammenfassung einer Resolution der FPÖ-Fraktion im Nationalrat gegen das geplante Klimaschutzgesetz der Regierung vor:
„Sie orten darin mehr Bürokratie, Verbote und Vorschriften sowie neue Steuern und Maßnahmen, deren Kosten ihrer Ansicht nach die KonsumentInnen tragen müssten. Konkret befürchten die Freiheitlichen, dass mit der Aufnahme des Klimaschutzes in die Verfassung demokratische Entscheidungsfindungen erschwert bzw. Handlungsspielräume beschnitten werden könnten. Ferner könnte mit dem vorgesehenen Klimakabinett der Föderalismus umgangen werden, im Klimadialog seien BürgerInnen zu wenig berücksichtigt und der Klimarat wäre nicht demokratisch legitimiert. Es wird unter anderem auch kritisiert, dass bei Überschreitung von Emissionsgrenzwerten automatisch eine zusätzliche Bepreisung von fossilen Energieträgern angewandt werden könnte. Statt abstrakter Ideen brauche es konkretes und praktisches Handeln, betonen die AntragstellerInnen. Daher fordern sie von Klimaschutzministerin Leonore Gewessler, effiziente und wirtschaftliche Lösungen, die den Wohlstand der ÖsterreicherInnen nicht gefährden würden.“3
Intonation und Aspiration des Vorgelesenen durch Walters Stimme betreffen nicht nur die im Text hervorgehobenen Wörter mit Klima – so wie Klimaschutz, Klimadialog und Klimarat – einerseits, sondern andererseits auch die Wörter Verfassung, demokratisch und Wohlstand der ÖsterreicherInnen als schützenswerte Güter, die zu schützen die FPÖ sich vornimmt. Subtil deutet sich in den Aspirationen an, wen Walter für die Trottel hält und woraus der Zusammenhang der Dinge nackt hervorgeht.
„Dieser Kickl“, setzt Walter sein Referat von seinem Handy aus fort, „ist drauf und dran, an der Spitze einer Widerstandsbewegung gegen den orthodoxen Klimakommunismus der Grünen am rechten Rand der Pasterze mit eigenen Händen die Fahne der wahren Klimaforschung zu hissen!“
„Was du nichts sagst?! Was, was? Ich verstehe dich nicht ganz –“. In der Tat hatte ich mindestens ein Wort nicht ganz verstanden. Walter sprach ein wenig undeutlich, auch schnaufte er während seiner Ausführungen, als ob er schon am Weg zum Großglockner wäre. Was ich nun zu hören bekam, las er mir vor, einen Text von Kickl, offenbar die Wiedergabe einer Einlassung des FPÖ-Obmanns in der ORF-Nachrichtensendung ZiB 2. Der zum Teil in Villach aufgewachsene Walter aspirierte die Worte des in Villach geborenen Kickl, in den er allem Anschein nach ganz vernarrt oder zumindest in einer Art von schwer erklärbarer Hassliebe verbunden ist, in einer Weise, die mir schon wie ein Nachäffen vorkam, wobei die auf Erzeugung konstruktiver Ironie abzielende Wirkung durch ein komisches Gemisch aus Kärntner Zungenschlag und wissenschaftlichem Tonfall erzeugt wird (so zu sprechen ist auch für Walter selbst nicht untypisch, also wirklich konstruktiv ironisch: das bin ich ja zum Teil selbst!):
„Schauen Sie, wenn wir über die Klimasache reden, dann müssen wir wissen, das wir die Bilder, die wir von der Gletscherausdehnung (dieses Wort dehnte Walter besonders aus) alle kennen, und ich kenn die alle sehr gut, weil das ist die Zeit, wo dann die Fotografie massiver eingesetzt hat und wo alle diese Führerliteratur (bei diesem Wort konnte Walter ein Lachen kaum unterdrücken) zum Beispiel in Zusammenhang mit den hohen Gebirgen entstanden ist, dass diese Gletscherausdehnung in einer Zeit entstanden ist, wo wir quasi das Ende einer Eiszeit gehabt haben. Das heißt der Gletscher war sehr, sehr weit ausgedehnt. Jetzt können sie nicht hergehen und sagen, das ist der Normalzustand, sondern das war eine Phase der Klimaentwicklung und es gibt andere Phasen der Klimaentwicklung. Der Gletscher hat sich wieder zurück gezogen und möglicherweise wird es wieder Phasen geben, wo sich der Gletscher ausdehnt.“
Walter las mir den Text auf meine Bitte noch ein zweites Mal vor, und auf eine weitere Bitte sogar noch ein drittes Mal, denn mich packte beim Zuhören plötzlich ein Einfall, eine Einsicht, eine Erkenntnis. In Wirklichkeit waren es drei Einfälle, Einsichten, Erkenntnisse. Flink fasste ich sie in drei Thesensätzen zusammen, denn ich wollte sie nicht wieder vergessen und verlieren.
„Ich weiß jetzt“, sagte ich hastig, „warum erstens der Trump die Thunberg fürchtet, was das alles zweitens mit Kafkas unermesslichem Verkehr zu tun hat und drittens mit Platons Forderung, im Staat sollen die Philosophen herrschen.“
„Wow“, sagte Walter, „jetzt muss ich mich setzen.“
Ausgelöst wird mein Gedankenhöhenflug durch das Wort ausdehnen in Kickls Rede. Wir alle wünschen uns im Klima-Diskurs ständig die Ausdehnung. Als ein gutes Zeichen kommt uns vor, wenn die Gletscher sich ausdehnen, je ausgedehnter der Gletscher unterm Glockner, desto besser geht es dem Klima. Niemand darf sich wundern, wenn ich, der an Lacan geschulte Psychoanalytiker, das Zeichen buchstäblich nehme, das große A von Ausdehnung, und dazu, zu dem von Gesundheit strotzendem Klima und seinem Zeichen, dem großen A seiner sich von den Bergen in die Täler ergießenden Eismassen natürlich die Erektion assoziiere. Und damit ist klar, dass die Imagination und Identifikation mit dem gesunden Klima, seine Behauptung und Verteidigung um jeden Preis, – eine Männersache ist.“
„Trump!“ sage ich. Walter lacht verhalten.
„Kickl sieht ja auch in der Schrumpfung einen Erfolg, nicht wahr? Wenn die Gletscher schmelzen, ein durch und durch gesunder Vorgang, dann emergieren im Eiswasser die Überbleibsel der Wärmeperiode. Alles im grünen Bereich. Der Zyklus eben. Kreislauf der Natur. Mondphasen. Von Eisprung zu Eisprung. Aber wir haben alles unter Kontrolle – sagen die weißen alten Männer.“
„Aber Trump? Warum fürchtet der Trump die Thunberg?“
„Hast du das Bild im Kopf: wie sie sich auf dem UN-Klimagipfel im September 2019 fast begegnen?“
Das ist der Zusammenbruch der Erektion. Greta ist die Gerte. Mit ihr wird der Trumpismus gezüchtigt. Auf dem UN-Klimagipfel, die ganze Welt sieht zu, spießt die spitze Gabel Greta den Trump auf. Sie richtet ihren frigiden Blick auf ihn, die Securities müssen sie abhalten, ihn zu durchbohren, seine Bodyguards hätten keine Chance gehabt. Gretas Zeichen ist das f – früh, Frost, zum Frieren bringt das Frühchen Greta Trumps Glied, die prämature unentwickelte Weiblichkeit lässt alles in ihm sich zusammenziehen. Die Lacan’schen Zeichen symbolisieren einen Umschwung der globalen Ökonomie. Wenn Gretas dünner Stab sich hebt, wenn Trumps Rute sich senkt, heißt das: Baisse für Trumps fettes Öl und seine stinkende Kohle, seine Atomlobby hat ausgepokert, statt dessen kommt die Hausse für glänzende Photovoltaik, in dünnen Röhren aus der Tiefe steigende Geothermie und lautlos schlanke Windkraft. Das alles dachte ich schweigend, während ich das Bild von Trump vor Augen hatte, wie er auf dem UN-Klimagipfel mit gesenktem Kopf umgeben von seinen Bodygards an Greta Thunberg vorbei schritt, sein Schreiten in meiner Vorstellung schon ein Wanken. Denn versperrt ist ihm und seinesgleichen – dem A – die frische Frühe des f.
Walter aber unterbrach meine weit ausufernden Gedanken.
„Das ist, weil sie vegan ist und er Fleisch frisst.“ Und dann holt er aus zu: „Die Veganer können sich das Vegan-Sein leisten, die Fleischfresser nicht! Absurd, wie?“
Den telefonisch übertragenen Seufzer des armen Walter vernehme ich wohl, denn während in seiner Brust zwei Seelen wohnen, oder besser gesagt, in seinen Gedärmen zweierlei Säfte lauern, ist mein Hunger wenn nicht einfacher, so doch eindeutiger zu befriedigen: Walter müht sich, vegetarisch blitzsauber zu bleiben, ich indessen fröne unbekümmert der Fleischeslust. Jede Leserin kann sich vorstellen, wie unsere gemeinsamen Restaurantbesuche verlaufen. Doch davon sind wir jetzt gerade weit entfernt.
„Der Kickl tritt ja öffentlich für unser tägliches Wiener Schnitzel ein! Das ist nicht nur ein ethno-politisches Statement, denn er meint natürlich Schweinsschnitzel, sondern auch ein sozial-politisches. Er ist ein klassischer Volkstribun. Dass die verbürgten Rechte des kleinen Mannes auf der Straße nur ja nicht auf der Stecke bleiben! – Beim Billa kostet ein Kilo Rindfleisch neun Euro Neunundneunzig –.“
Ich weiß schon, was jetzt kommt: Das sind Dumpingpreise mit verheerendem Schaden für die lokale Biobauernkonkurrenz und für das globale Klima. Das ist Gammelfleisch aus Osteuropa. Und schon fängt Walter auch wieder an, aus der berühmten Schlachthausszene aus Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz zu zitieren, garniert mit ein paar guten Sagern aus Peter Turrinis Stück Sauschlachten. Damit das nicht eskaliert, werfe ich geschickt ein:
„Fleischverzicht ist eine Form der Sublimierung!“
„Echt? Siehst du wirklich einen Zusammenhang zwischen meinem heroischen Vegetarismus und meinem Umgang mit dem Fortpflanzungstrieb?“
So weit wollte ich eigentlich nicht gehen. Aber Walter hat es mir sozusagen aufgelegt: „Das Recht auf Fleischlichkeit ist das Recht des kleinen, des freien – Mannes!“
„Soso?! Sich von Reformkost zu ernähren, wie ich es tue, ist also ein Bobo-Privileg?“
„Ja. Und deine Söhne begehen beim McDonalds Vatermord an dir.“
Jetzt ist er sprachlos. Und schon setze ich nach. „Luxusescort statt Straßendirne. – Und ich bin mir nicht einmal sicher, ob dem Klima durch Konsumverzicht von deinesgleichen überhaupt geholfen ist. Es hat sich bloß eine neue Nische am superglobalistischen Lebensmittelmarkt gebildet. Der Veganismus der Reichen ist eine Art Sahnehäubchen am Welthandelskuchen. Oder vielleicht sogar Öl ins Feuer der Fair-Trade-Aktionäre. Er ändert aber nichts an den Rodungen am Amazonasufer.“
Die Stimme Walters klingt nun schier verzweifelt: „Wie kann es nur sein,“ keucht er, „dass das Billigste das Teuerste und das Teuerste das Billigste ist!?“
„Wie meinst du das?“ hake ich erbarmungslos nach. Denn ich weiß es ohnehin, ich möchte ihn zwingen, dass er es ausspricht.
„Das öko-logisch billigste ist das öko-nomisch teuerste und zugleich ist das öko-logisch teuerste das öko-nomisch billigste. Das Agrarparadox! Bei Eric Hobsbawn habe ich eben gelesen… “ – Er stockt nun, ich höre, wie er herumläuft und herumsucht und das Rascheln von Papier, dann liest er vor: „Wie ein Gletscher lag das überkommene Agrarsystem mit seinen gesellschaftlichen Beziehungen auf dem fruchtbaren Boden wirtschaftlichen Wachstums.“4
„Schon wieder ein Gletscher!“ werfe ich erstaunt ein.
„Damals, Anfang des 19. Jahrhunderts, war es eben wieder genau umgekehrt,“ doziert er unbeirrt, „die Landwirte befreiten sich, um für den Markt zu produzieren, die Struktur war damals revolutionär, heute ist sie reaktionär.“ – – Lange Pause. Er sammelt sich. Dann: „Der Gletscher ist geschmolzen, aber heute brauchen wir ihn wieder.“ Dann: „Das logisch billigste ist: lokale Produktion, kleine Produzenten, wenige Ressourcen.“ Dann: „Das nomisch billigste ist: globale Produktion, große Produzenten, viele Ressourcen.“
Ich habe verstanden: Kickl suft auf dem Agarparadox. Wenn er das Wiener Schnitzel für den kleinen Mann retten will, rettet er die Profite der globalisierten Lebensmittelindustrie und des globalisierten Lebensmittelhandels. Der Gletscher ist geschmolzen, die Schicht der radfahrenden Bauernmarktkonsumenten schmal, der rucksacktragenden Plastikverpackungsverweigerer. Das ergibt bei Gott keine revolutionäre Masse, die Gletscher wieder anschwellen ließe.
„Der Verkehr!!!“ schreie ich in das Telefon. „Es liegt verdammt am Verkehr!! In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr!"5
„Das ist ja Kafka! Wie kommst du bloß darauf?“
„Keine Ahnung.“ Mein Unterbewusstsein hat mir einen Streich gespielt. Die Erzählung Das Urteil von Franz Kafka, die mit dem Satz vom unendlichen Verkehr endet, hat auf der bewussten, logischen Ebene mit unserem Gesprächsthema scheinbar gar nichts zu tun. Aber hat unser Gespräch überhaupt ein Thema? Und steckt im Verkehr, in der Mobilität von Menschen und Dingen, nicht eminent psychoanalytische Bedeutung? Kafkas Erzählung kann man ja gar nicht anders als psychoanalytisch deuten. Es handelt sich um die moderne Ödipus-Erzählung par excellence. Excellent! Gleich habe ich es! Gleich habe ich den Übergang geschafft!
„Kickl“, so fällt mir Walter mit rücksichtsloser Ungerührtheit in den Rücken, „ist ja auch der Chef der österreichischen Autofahrerpartei, in einer unheiligen Allianz mit der SPÖ. Die ist auch gegen die Abschaffung der Pendlerpauschale und des Dieselprivilegs, wie wir Grüne sie fordern.“ Er holt weit aus: „Doch das Zeitalter des Automobils geht zu Ende. Der Fetisch Auto hat ausgedient.“
Fetisch! Nun flutscht es bei mir wieder. Hohe Spritpreise treffen die kleinen Leute. Sprit, spritzen, Spritstrahl, der trifft. Einspritzmotoren. Ich sehe vor mir das Bild, wie ein fettbäuchiger Pendler seine Limousine auftankt. Der Riesenschnabel des Tankungetüms durchstößt die enge Öffnung. Was für Gedanken! Ich lenke ab: „Eigentlich schützt der Kickl die Freiheit unserer Frauen. Ich brauche kein Auto. Meine Frau braucht eines, um ihre Mutter im Pflegeheim zu besuchen.“
Sofort pflichtet mir Walter bei: „Das ist bei mir nicht anders. Meine erste Frau ist von ihrer Schrotbeule unzertrennlich. Meine zweite Frau hat jahrelang auf ihren Opel gespart. Und aus dem Leben meiner Jetzigen ist der weiße Flitzer nicht wegzudenken. Der Kickl ist der Mörder, Hoffnung der Frauen.“
Gelächter. Gefühlte zwanzig Sekunden. Eine Vision des 20. Jahrhunderts. Das Auto als sein Fetisch, sein Symbol mehr als die Atombombe. Henry Ford und Kraft durch Freude. Jedem Kleinbürger seinen Käfer. Schnitt. Elisabeth Langgässers Frau am Steuer verwandelt sich in meiner Fantasie in Lenore Gewessler, mein Blick fährt deren executive blouse entlang über Nacken, Schultern, Arme zu denen nackten Händen, aus denen ein Autoschlüssel in das Gewässer der Lobau entgleitet.
Wohin bin ich geglitten? Wo waren wir stehen geblieben? Das Auto als Fetisch … Fetisch … Faschismus!
„Wie war das gleich mit deinen Kärntner Öko-Faschisten, lieber Walter?“ frage ich nicht ohne provozierenden Unterton. „Du hast mir doch einmal gesagt, dass dort bei euch unten unter dem Einfluss der Landluft besondere Spielformen der Grün-Ideologie gedeihen?“
Er seufzt auf. Er ist Parteimitglied. Bei den Kärntner Grünen. Deren interne Streitigkeiten und Spaltungen haben unter anderem auch damit zu tun gehabt, dass einige Wortführer aus den gebirgigen Landgemeinden Oberkärntens gegen die Stadtgrünen der Landeshauptstadt manchmal keine Scheu gezeigt haben, so ein bisschen Blut und Boden, Volksgesundheit, Nur in einem gesunden Körper …, Naturburschentum und so weiter in den grünen Katechismus zu mischen. Walter seufzt und schweigt. Er schweigt und denkt: Grüne minus Liberalität ist gleich rechts. Der grüne Lebensstil ist bloß für Reiche leistbar. Die Grünen sind eine Zweckgemeinschaft der Radfahrer und Öffi-Nutzer. Öko ist postkapitalistisch, ein neues Geschäftsmodell. Neue Hierarchien, neue politische Eliten. Neuen Wein in alte Schläuche. Die Klimaschutzbewegung ist nicht revolutionär. Sie bringt nicht mehr soziale Gerechtigkeit mit sich. Sie hilft auf der nationalen wie auf der globalen Ebene mit, die Gräben zwischen Arm und Reich zu vertiefen. Wieder frisst die Aufklärung ihre Kinder. Die Geschichte wird den Kickls recht geben.
Während Walter immer mehr der Melancholie verfällt, ist mir längst wieder Platon eingefallen. Die Utopie der Philosophenherrschaft.
„Wenn nicht in den Staaten entweder die Philosophen Könige werden oder die, welche man jetzt Könige und Herrscher nennt, echte und gründliche Philosophen werden, und wenn nicht diese beiden, die politische Macht und die Philosophie, in eines zusammenfallen und all die vielen Naturen, die heute ausschließlich nach dem einen oder dem anderen streben, zwingend ausgeschlossen werden, dann, mein lieber Glaukon, gibt es kein Ende der Übel für die Staaten und, wie ich meine, auch nicht für die Menschheit.“6
Das waren noch Zeiten, als die Philosophen noch konkrete Ideen zur Verbesserung von Mittelgriechenland hatten, noch Voraus-Denker waren und nicht Nachdenker! Zwar des Altgriechischen mehr oder minder unkundig, versuche ich Walter die Platonische Weisheit in das Politologen-Deutsch der Gegenwart zu übersetzen:
„Wenn die politischen Eliten der EU sich aus der wissenschaftlichen Elite rekrutieren würde oder wenn die Angehörigen der politischen Kaste wenigstens gründliche politische Schulung erfahren würden – also: passives Wahlrecht nur für Personen mit Universitätsdiplom – und solange politische Macht und wissenschaftliche Qualifikation einander nicht bedingen und populistische Demagogie und nicht-evidenzbasierte Politik vom Grundgesetz nicht untersagt sind, solange, lieber Walter, besteht keine Chance, die Klimakatastrophe zu verhindern.“
Meine Gedanken gleiten wieder ab. Alles driftet auseinander. Platons Dogma wäre ein Triumpf der linken Gehirnhälfte. In ihrem Dienst steht die Wissenschaft. Doch auch Ideologie gehorcht dem Prinzip der Rationalität. Auf der anderen Seite der Strom der Gefühle. Fridays for Future. Eine Flut, getrieben von einer Dystopie. Die Utopie der weisen Herrschaft, eine neue rationale Global-Religion. Was rettet das Klima? Konfuzianische kommunistische chinesische Zustände mit von oben verordneten Regeln? Ein-Kind-Politik – Ein-Ökologischer-Fußabdruck-Politik! Top down oder Bottom Up? In ein entsetzlich langes Schweigen dringt von fern Walters Stimme:
„Was machen wir dann in der Philosophen-Diktatur mit dem Kickl?“
„Ostrakismos“ sage ich matt.
Eine lange Pause entsteht. Ich höre sekundenlang bloß ein Rauschen. Fährt er in einem Tunnel? Nicht möglich. In Klagenfurt gibt es keine U-Bahn.
„Man kann das Ganze anders betrachten.“
„Wie denn?“
„Man dringt nicht durch. Hast du nicht auch das Gefühl, das wir nicht durchdringen?“
Ich höre Walter jetzt nur ganz schlecht. Das liegt vielleicht daran, dass ich mich beim Hofer in der Lerchenfelderstraße im achten Wiener Gemeindebezirk bereits der Kasse nähere. Ich muss den Familieneinkauf abschließen. Mein Smartphone ist zwischen Kinn und Achsel geklemmt.
„Die Kickls sind nur ein Oberflächenphänomen.“
„Gewiss!“
„It’s the economy, stupid!“
„Was?“ Ich lasse die Margarine auf das Laufband plumpsen.
„Der Markt!
Er überlagert alles!
Er überwuchert alles!
Er saugt alles auf!
Die Philosophen und Könige können den Markt nicht regeln. Er regelt sie.“
„Glaubst du? Dann wäre er ja Gott?!“
Ich lege das Handy in die Manteltasche. Seelenruhig bezahle ich mit meiner Bankkarte und packe die Sachen in meinen Rucksack. Keine Ahnung, was Walter inzwischen alles von sich gegeben hat. Ich presse das Ding wieder an mein Ohr.
„Eine alles umfassende Überzeugung, ein Gesetz? Oder Gottes Finger? Oder an seiner Statt die Annahme, daß der Moral bisher eine ›induktive Gesinnung‹ gefehlt habe, daß es viel schwerer sei, gut zu sein, als man geglaubt habe, und daß dazu eine ähnlich endlose Zusammenarbeit vonnöten sein werde wie überall in der Forschung? Ich nehme an, daß es keine Moral gibt, weil sie sich nicht von etwas Beständigem herleiten läßt, sondern daß es nur Regeln zur unnützen Aufrechterhaltung vergänglicher Zustände gibt; und ich nehme an, daß es kein tiefes Glück gibt ohne eine tiefe Moral: dabei scheint es mir aber ein unnatürlicher, bleicher Zustand zu sein, daß ich darüber nachdenke, und es ist überhaupt nicht das, was ich will!“7
Das scheint mir Musil zu sein. Die Utopie der induktiven Gesinnung. Damit wären wir ja schon in unserem nächsten Dialog. Ich drücke beruhigt auf den roten Knopf.
1 Zit. n. Elias Canetti, Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931-1937. München 1985. 185.
2 Robert Musil: Vermächtnis. In: Musil-Nachlass, Mappe II/1, S. 65.
3 Parlamentskorrespondenz Nr. 892 vom 14.07.2021, https://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2021/PK0892/#XXVII_A_01770.
4 Eric Hobsbawn: Das lange 19. Jahrhundert. Bd. 1. Europäische Revolutionen 1789–1848. Darmstadt 2017, S. 194.
5 Franz Kafka: Das Urteil. In: Projekt Gutenberg, https://www.projekt-gutenberg.org/kafka/erzaehlg/chap025.html.
6 Platon: Politeia. https://www.gottwein.de/Grie/plat/PlatStaat472b.php
7 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Kapitel 2/22.