September 2039
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Ich rieche ihn. Seinen Atem, vertraut von damals. Sein Schweißgeruch, heftig wie immer. Er ist wirklich, wirklich da, das sagt mir der Geruch. Seine Schuppen stäuben auf und fliegen mir ins Gesicht und sogar in meine Nase, wie er sich mit der Hand durch das Haar fährt, mit einer dieser fahrigen Bewegungen, so hat er damals seine Reden begonnen. So nah ist er mir gerückt. Wir sitzen uns im Café Lichtblick gegenüber, umgeben von viel Glas und Spiegelungen, die vortäuschen und über manches hinwegtäuschen können. Doch der Geruch und die staubfeinen Haarpartikel lassen keine Täuschung zu. Es ist kein Phantom, es ist Florian, mir gegenüber.
Seine Lippen schürzen sich, wie sie es damals immer getan haben, und öffnen sich leicht, heraus kommt ein Prusten, typisch für ihn, so prustet nur er, Florian. Ooooch, Ooooch. Es kommt aus der Kehle, kommt aus der Seele. Seine Augen tränen leicht hinter den verschmierten Brillengläsern, die Haut auf der Stirn zeigt die berühmten roten Flecken und die Akne in seinem wohl frisch getrimmten Dreitagebart ist auch nicht zu übersehen.
Ich fasse seine Schultern unter dem leicht gepolsterten Sakko, ich greife nach seinen Händen, meine Finger registrieren das Schwitzen an den Handinnenflächen. Nein, es besteht kein Zweifel: Er ist es, der wirkliche Florian, wie er leibt und lebt. So sagt man. Wie er lebt. Sein Leib! Mir bedeuten die erstarrten Worte dieser altertümlichen Wendung jetzt viel mehr als sie sonst meinen. Er lebt! Es ist sein Leib. Ich sehe das Heben des Brustkorbs und das Spannen des Bauchs, der nicht größer und nicht kleiner geworden zu sein scheint als in meiner Erinnerung. Ich warte, dass er zu sprechen beginnt, doch er summt nur. Ich erkenne die Melodie. Auch aus ihr höre ich, dass wirklich er es ist, der Leibhaftige, der Lebende. Obwohl er seit 23 Jahren tot ist. Eine lange Zeit. Fast ein Vierteljahrhundert. Am 10. Mai 2016 hat er sich erhängt.
Würde er sein Sakko ausziehen, nähme ich die riesigen Schweißflecken wahr, die sich von den Achselhöhlen aus auf seinem Hemd ausgebreitet haben. Begin the Beguine … Es war dieses Lied, das hatte er auch damals in Stimmungen freudiger Erregung gesummt. In diesen Momenten war das Todbringende nicht in ihm. Das, was den Angstschweiß aus allen Poren seines Körpers gepresst haben muss. Auch vom Schweiß des Schreckens nahm ich damals einiges wahr. Doch an den summenden Florian erinnere ich mich am liebsten, wenn er einen Akkord aus der Brust zaubert, wie jetzt, bevor er zu sprechen beginnt.
Das Lied summte er, als er vor meinem allerersten Vortrag am Institut mir Übernervösen einen Schnaps kredenzte. Er summte es, wenn ich in der Zeit, in der ich im Dorf wohnte, frühmorgens in sein Auto stieg, das uns in die Stadt und ans Institut brachte, während die Tochter am Rücksitz döste. Und er summte dieses Lied zwischendurch auch an jenem Karfreitag, an dem wir uns zu zweit besoffen, da er das Institut interimistisch leitete.
Auch jetzt wird er gleich sprechen. Ich rücke noch mehr auf ihn zu, begierig zu hören, was er mir sagen wird. Das Netz hat ihn nicht altern lassen. Sein Haar dicht, nicht einmal an den Schläfen ergraut. Ich bin heute ein weißhaariger Greis über achtzig, er ist knapp fünfzig geblieben. Immer noch summt er: Beguine the beguine. Er lacht vor Freude. Das Wiedersehen ist echt. Gleich wird er mir alles erklären. So wie er mir damals alles erklärt hat. Sogar die Begattungswörter in allen südslawischen Sprachen, als wir einmal einen ganzen Nachmittag bloß damit verbrachten.
Wieder taste ich mich vor. Zu ihm hin. Er lächelt mir aufmunternd zu. So wie er damals gelächelt hat, in den vielen Fällen, in denen ich seine Hilfe in Anspruch nahm. Er lächelt wissend. Er errät, wonach ich taste. Und nun öffnet er seinen Mund, jedoch nicht, um schon zu sprechen. Vielmehr schickt er mir seinen Hauch zu, begleitet von leichtem Hüsteln fliegen seine Aerosole auf mich zu und landen auf meiner Stirn, meinem Bart, tanzen in meine Nase. Er weiß, was ich denke: es ist nichts zwischen uns, kein gap.