Ewiges Leben

Porträts & Exposés

KRIEG

 

Die Notiz auf dem Zettel lautet:

Putins Schwäche
ein kleiner Mann mit hoher Stirn
und weiblicher Rundlichkeit
steht da in Dresden wie Nero
der Rom brennen sieht.

Der Traum, soweit ich ihn rekonstruieren kann, geht so: Es ist November im Jahr 1989. Ich bin ein Medizinstudent aus dem Iran in Dresden in der DDR nach dem Mauerfall. Ich ziehe mit einer Gruppe wütender Demonstranten – alle haben schwarz-grüne Regenschirme – die Straße längs der Elbe hinauf zum Stasi-Hauptquartier. Dort steht der noch junge Putin, starrt der Menge mit unbewegtem Gesicht entgegen. Die Leute entzünden ihre Schirme und werfen sie über den kleinen KGB-Chef hinweg auf das Stasi-Haus wie brennende Gasluftballone. Ich in meinem Übermut laufe mit meinem Schirm johlend voran. Da höre ich von hinten ein wütendes Zischen und Pfeifen. Mich umwendend sehe ich hasserfüllte Gesichter mich anstarren. Du nicht, schreien sie, mit dir nicht, du bist keiner von uns, wir sind das Volk, rufen sie. Vor mir der kleine Putin bläst sich auf, wird größer und größer, ich klammere mich an seine Hände, er hebt ab, entführt mich in die Lüfte, ein riesengroßer Ballon. Wir fliegen über die Ukraine, ich sehe sie unten im Landkartenformat, überall treffen sie Pfeile, giftige Pfeile, ich sehe es ausrinnen von ihren Spitzen und weiß, dass es Gift ist. Von Südosten nähert sich uns auf einem Drohnenteppich ein fliegender Ayatollah. Ich erkenne sein grausliches Gesicht, es ist der Mörder meiner Verwandten. Putin wird mich ausliefern, ich versuche mich strampelnd von ihm zu lösen, es ist mir lieber, in die Tiefe zu stürzen als das zu ertragen, doch es gelingt mir nicht, ich klebe an ihm und er dringt überall in mich ein. Da kommt die Rettung: Ich erwache.

In den Tagen und Wochen danach weigert sich alles in mir, irgendjemandem von dem Traum zu erzählen, weder meiner Frau Bettina noch meinem Sohn Daniel. Sie sehen mich leiden. Doch ich schweige. Von meinem Kärntner Freund Walter entferne und entfremde ich mich. Ohnehin geht mir sein kindischer Narzissmus auf die Nerven. Zwanghaft muss ich mir immer wieder vorstellen, wie er sein ’s ist Krieg! ’s ist Krieg! ausruft, im Jammerton die Verse des Matthias Claudius zitierend, O Gottes Engel wehre, Und rede Du darein! ’s ist leider Krieg – und ich begehre, nicht schuld daran zu sein! Wer redet denn von Schuld?